meHRdigital: #3.2 Digitalisierung im Recruiting

Veröffentlicht am 10.08.2021

Die richtige Balance zwischen Mensch und Maschine 

Personen winken Schiff mit Kapitän zu

Recruiting gehört inzwischen zu den erfolgskritischen Prozessen eines Unternehmens. Das Digitalisierungspotential ist sehr hoch, die technischen Entwicklungen rasant und der Digitalisierungsgrad des Recruitings kann über die Konkurrenzfähigkeit eines Arbeitgebers entscheiden.

Doch das Thema ist nicht neu. Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten haben wir von eRecruiting gesprochen. Online-Job Portale, Active Sourcing und das Durchforsten von Lebenslaufdatenbanken, online Bewerbungen, Screening mit Vorfiltern und die sogenannten ATS (Application Tracking Systems) für das Bewerbermanagement gehören inzwischen zum Standard. Was zuvor Kür war, ist heute nicht mehr wegzudenken. 

Nun gilt es weiterzudenken und die schier unendlichen digitalen Möglichkeiten in der Welt des Recruitings auf Validität, Tauglichkeit und Zielgruppen- und Unternehmenspassung zu überprüfen. Stellenausschreibungen werden durch Augmented-Writing zielgruppengerecht optimiert, die Talentsuche durch Matching-Algorithmen vereinfacht, die Bewerbung durch Mobile Recruiting und CV-Parsing erleichtert, der Kontakt zu Bewerber*Innen mit Chatbots unterstützt, Bewerbungsunterlagen werden mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) analysiert, bewertet und aussortiert, die Durchführung von Interviews durch zeitversetzte Videointerviews flexibilisiert und mithilfe von KI evaluiert, die Eignung von Bewerber*innen mit Daten erfolgreicher Mitarbeiter*innen verglichen, der gesamte Prozess durch virtuelle Recruiter*innen effizienter gestaltet und die Wirksamkeit der Maßnahmen durch Analytics ausgewertet und optimiert. Gamification, d.h. spielerische Elemente, steigern die Aufmerksamkeit und Motivation der Bewerber. Virtual Reality Szenarien geben einen Einblick in die Wirklichkeit der zu erwartenden Arbeitswelt. 

Welche Teilprozesse des Recruitings werden durch neue Technologien unterstützt und wo gibt es Fallstricke?

Bewerberansprache 
Organisationen erreichen durch online Karriere- und Bewerberportale und entsprechender Suchalgorithmen eine unendliche Reichweite Ihrer ausgeschriebenen Bedarfe und Stellen. Die Bewerbungshürde für Kandidaten*innen soll reduziert, das Kandidatenerlebnis positiv gestalten werden. Ziel ist, sich durch Differenzierung positiv von der Konkurrenz abzuheben.

Eine der damit verbundenen Herausforderungen ist, sensibel mit der digitalen Transparenz der Arbeitgebermarke umzugehen, denn sie hat zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen potenziellem Arbeitgeber und Kandidaten*innen geführt. So können z. B. durch KI unterstützte Auswertungen von Arbeitgebern, das Arbeitgeberimage beschädigen und potenzielle Kandidaten*innen abschrecken. Wer fürchtet nicht, mit negativen Evaluierungen auf einem der gängigen Arbeitgeberbewertungsportalen konfrontiert zu sein?

Eine weitere Herausforderung besteht darin, online Bewerberprozesse zielgruppengerecht zu gestalten. Ziel ist, durch genaue Kenntnisse der Zielgruppe(n) und entsprechender Anpassung der Recruiting-Prozesse Hemmschwellen für die Bewerbung zu reduzieren. Kann man sich über WhatsApp bewerben? Reicht eine Kurzbewerbung aus oder sind Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnisse erforderlich? Ist die Antwort auf den Bewerbungseingang anonym und automatisiert oder enthält sie eine persönliche Komponente?

Ein nicht zu unterschätzendes Risiko durch die Fokussierung auf online vs. offline in der Bewerberansprache ist der Ausschluss und damit einhergehende Benachteiligung bestimmter Personengruppe. Dies kann zur Nichtbesetzung der für den Unternehmenserfolg kritischen Stellen führen. Potenzielle Kandidaten, die nicht online sind, werden nicht mehr angesprochen und wollen bzw. können sich nicht mehr bewerben.

Personalauswahl
Wesentliche Ziele des Einsatzes von KI-Technologien in der Auswahl geeigneter Kandidaten*innen sind die Verbesserung der Entscheidungsqualität, die Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeit sowie das Erreichen von Effizienzgewinnen. 

Der Einsatz selbstlernender Algorithmen soll im Interesse der Kandidaten*innen sowie des Unternehmens, das Risiko reduzieren, "falsche" Auswahlentscheidungen zu treffen. Falsch deswegen, weil sie auf subjektiver Erfahrung und Intuition beruhen und von Stereotypisierungen, Vorurteilen und Halo-Effekten beeinflusst sein könnten.

Die Wirksamkeit der eingesetzten Software hängt jedoch von der Validität der verfügbaren Datenbasis ab. Diese enthält Kompetenzen, Persönlichkeitseigenschaften und weitere Faktoren, die für den beruflichen Erfolg ausschlaggebend zu sein scheinen, und gleicht diese mit Informationen über die Kandidaten*innen ab. Knackpunkt ist, dass diese Daten zumeist auf Erfahrungen der Vergangenheit basieren und unvollständig sein können. So mag es z. B. sein, dass sich die autoritäre und durchsetzungsstarke Führungskraft in der Vergangenheit bewährt hat, in der Zukunft aber der partizipative Führungsstil mehr Erfolg verspricht und besser zu der sich veränderten Unternehmenskultur passt. Auch Diskriminierungen spezifischer Mitarbeitergruppen können repliziert werden. Wenn in einem Unternehmen der typische Erfolgskandidat weiß und männlich ist, besteht das Risiko, dass der Gender Bias verstärkt und Kandidatinnen von der KI aussortiert werden. Ein öffentlich gewordener Vorfall der Benachteiligung von Frauen in der Personalauswahl aufgrund der Replikation des Gender Bias durch die KI ereignete sich 2018 bei Amazon. Da die Pfadabhängigkeit nicht aufgedeckt werden konnte, wurde der Einsatz von KI im Auswahlverfahren gestoppt. Fest steht, dass der Arbeitgeber für eine Benachteiligung von Bewerbern haftbar ist. Ob die KI schuld ist, spielt keine Rolle.

Ein weiterer Fallstrick ist, das automatisierte Verfahren im Auswahlprozess zu mangelnder Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen führen. "Der digitalisierte Prozess, sei es KI oder nicht, darf nicht zur Black Box der Auswahlentscheidung werden."(1) Dies kann mangelnde Akzeptanz interner Stakeholder sowie betroffener Kandidaten*innen nach sich ziehen. Wie soll eine Recruiterin der Hiring Managerin erklären, dass die bevorzugte Kandidatin durch Advanced Analytics aussortiert wurde, die Gründe jedoch nicht nachvollziehbar sind?

Die richtige Mischung machts. Der Einsatz von KI in der Personalauswahl ist zum Teil unabdingbar geworden, vor allem bei großen Mengen an Bewerberdaten. Entscheidend ist, sich den mit dem Einsatz selbstlernender Algorithmen einhergehenden Risiken bewusst zu sein und diese beherrschbar zu machen. In erster Linie bedeutet dies, Transparenz in die Black Box der Entscheidungsfindung zu bringen, um Entscheidungspfade nachvollziehen zu können. Ethische und gesellschaftliche Werte, sowie Datenschutzauflagen müssen berücksichtigt werden. Nichtsdestotrotz, egal wie valide digitalisierte Auswahlverfahren sind, sie ersetzen den persönlichen Kontakt nicht. Am Ende des Tages ist es uns allen ein zutiefst menschliches Bedürfnis, mit Menschen zu sprechen. 

Gibt es die Eier legende HR Tech Wollmilchsau für Recruiting?

Nein, es gibt sie nicht. Der Markt der HR Tech Tools für Recruiting wächst rasant. Jedes Jahr kommen dutzende Start-ups auf den Markt. Laut Josh Bersin hat die durchschnittliche Recruitingfunktion mehr als 20 unterschiedliche Tools im Einsatz mit entsprechenden negativen Folgen für die "User Experience" und die Effizienz des Recruitingprozesses. Dazu gehören neben integrierten Application Tracking Systems (ATS) u.a. Lösungen für Karriereportale und sogenannte "Engagement Plattformen", Sourcing Lösungen, Chatbots, Background Checks, online Tests und Assessments, Lösungen für zeitversetzte Videointerviews bis zu Anwendungen für das Onboarding und die interne Mobilität. 

Viele Anbieter integrierter Recruitingsysteme haben über die letzten Jahre versucht, Ihre Lösungen zu komplementieren - mit zum Teil geringem Erfolg. Aufgrund der Vielzahl neuer Möglichkeiten und Konkurrenten sind Innovationsdruck und damit verbundene Entwicklungskosten enorm hoch. 

Entscheidend für die Wirksamkeit eines integrierten Recruiting-Systems und eventuell komplementierende Lösungen sind dessen Flexibilität in Bezug auf die Anbindung zusätzlicher Tools sowie die Konfigurierbarkeit an zielgruppenspezifische bzw. sich kontinuierlich verändernde Anforderungen. Im besten Fall können diese Anpassungen durch das Recruitingteam selbst realisiert werden.

Wie auch bei der Auswahl und Implementierung anderer Lösungen oder einer kompletten HR IT Suite gilt es, sich vorher sehr klar über die Zielsetzung der Nutzung, die kritischen Anforderungen aus der Perspektive aller Nutzer zu sein und relevante Interessengruppen mit einzubeziehen. Gleichzeitig gilt es, offen für neue technologische Möglichkeiten zu sein, die bis dato nicht bekannt waren. Desto kleinteiliger die Anforderungen in detaillierten Pflichtenheften beschrieben werden, desto größer ist das Risiko, sich vor Neuem zu verschließen.


Und wie sieht es mit der Akzeptanz der Bewerber*innen aus? 

Die sogenannte Candidate Experience ist ein immer wichtiger werdender Faktor im "War for Talents". Auch wenn der Einsatz neuer Technologien auf den ersten Blick wirtschaftlich und innovativ erscheint, können hohe Opportunitätskosten entstehen, wenn ihr Einsatz Kandidaten*innen abschreckt und zum Verlust der Glaubwürdigkeit des Unternehmens führt. Und hier sind wir wieder bei der zielgruppenspezifischen Ansprache. So können zeitversetzte Videointerviews in der Vorauswahl für die einen besonders "hip" sein, während sich andere nicht wertgeschätzt fühlen und die Bewerbung zurückziehen. Akzeptanz und Wirkung von KI im Recruiting sind bisher wenig erforscht. Erste Erkenntnisse gibt es. So besagt eine Studie von Dahm und Dregger (2019) in Bezug auf ausgewertete offene Kommentare von Nutzer*innen, "dass ein Mensch in den Recruiting-Prozess involviert sein sollte, und zwar umso mehr, je weiter dieser fortschreitet."(2) Entscheidend für viele ist, dass die relevanten Auswahlentscheidungen Menschen und keine Maschine treffen. 

Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Profile der Recruiter*innen? 

Die Maschine wird den Faktor Mensch im Recruiting nicht ersetzen, sondern ergänzen. Damit haben sich die Anforderungen an Recruiter*innen verändert. Ohne Digitalisierungs- und Datenkompetenz ist vom Einsatz neuer Technologien abzuraten. Im Recruitingprozess herangezogene Daten und damit zusammenhängende Entscheidungspfade sollten nachvollzogen werden können.   

Und was ist nun das Fazit?

Die Digitalisierungspotentiale im Recruiting sind groß. Der HR Tech Markt für Talent Acquisition wächst rasant. Insgesamt kann die Digitalisierung große Kosten- und Zeitersparnisse bewirken sowie zum Unternehmenserfolg beitragen. Doch, nicht alles was glänzt ist Gold. Neben den Potentialen sollten auch Fallstricke und Risiken berücksichtigt werden, die je nach Unternehmen und Zielgruppe anders aussehen. Besonders zu berücksichtigen sind auch der Datenschutz und die Richtlinien des Ethikbeirats HR Tech.

Wie so vieles ist die Digitalisierung im Recruiting nicht schwarz oder weiß, sondern reich an Facetten. Wir helfen euch gerne den Durchblick zu behalten. Sprecht uns einfach an!

Ihr wollt mehr wissen? Wir sind gerne für Euch da!

Quellen / Links:

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Aus redaktionellen Gründen gendern wir nicht immer, es sind aber natürlich immer alle Geschlechter angesprochen.